Essstörungen erkennen und behandeln
Für Menschen mit einer Essstörung ist Nahrung wie eine Droge. Doch wie entkommt man einem Suchtmittel, auf das der Körper angewiesen ist?
© Pexels/Angela Roma
Ob im Überfluss oder Mangel: Für Menschen mit einer Essstörung ist Nahrung wie eine Droge. Doch wie entkommt man einem Suchtmittel, auf das der Körper angewiesen ist?
Von Body Positivity merkt man an der Innsbrucker Universitätsklinik für Psychiatrie II nicht viel. Hier werden Patient:innen mit schweren Essstörungen behandelt – jene, die zu wenig essen, ebenso wie jene, die es im Übermaß tun. Wir treffen uns mit Barbara Mangweth-Matzek, die als Psychologin und Psychotherapeutin in der psychosomatischen Ambulanz tätig ist und seit über 30 Jahren an Essstörungen forscht.
Im Gespräch erklärt sie, warum Sportler:innen besonders gefährdet sind, ab wann das eigene Essverhalten problematisch ist und ob man es ansprechen sollte, wenn man bei einer nahestehenden Person eine Essstörung vermutet.
Wie merke ich, dass ich eine Essstörung habe?
Barbara Mangweth-Matzek: Das ist eine gute Frage, weil man sich bei einer Essstörung eigentlich selbst oft nicht mehr spürt. Betroffene haben gelernt, ihren Hunger, ihr Schwächegefühl und alle Zustände des Körpers zu negieren und trotzdem zu funktionieren
Man merkt es am ehesten daran, dass man nicht mehr im Gleichgewicht ist, in eine depressive Verstimmung verfällt, nicht mehr so oft lacht, vielleicht auch nicht mehr so gut schläft. Meistens passiert das schleichend; das pathologische Ausmaß erkennt man oft viel zu spät, weil in unserer Kultur die ersten Symptome von gestörtem Essverhalten so normal sind.
Es ist normal, dass 80 Prozent der Frauen unzufrieden mit ihrem Körper sind, und bei Männern zieht diese Entwicklung nach. Manche leben mit diesem Gedanken weiter, andere ziehen Konsequenzen und machen zum Beispiel eine Diät.
Restriktive Diäten sind aber sehr ungesund, weil sie erst recht zu exzessiven Essanfällen und Gewichtsschwankungen führt. Auf der anderen Seite lösen Diäten auch Glücksgefühle aus, weil sie einem das Gefühl geben: Ich kann das schaffen. Das kann auf Dauer jedoch gefährlich werden.
Wenn die Sprache fehlt, reagiert der Körper.
Barbara Mangweth-Matzek, Psychologin und Psychotherapeutin
Welche Essstörungen sind am häufigsten?
Im Grunde gibt es zwei Formen: das restriktive Verhalten, wo man dem Körper weniger gibt, als man eigentlich bräuchte, wie bei der Anorexie – und den Kontrollverlust, wo exzessiv viel Nahrung aufgenommen wird, wie bei der Bulimie oder der Störung mit Essanfällen. Die schwerste Form ist sicherlich die Magersucht. Und die tritt nicht nur bei jungen Mädchen auf, sondern geht hinauf bis ins hohe Alter und betrifft auch Männer. Oft kommt mit der Zeit die Bulimie hinzu – wenn man immer nur hungert, will der Körper das Defizit irgendwann ausgleichen.
Bei den Essattacken wird ein Schalter im Kopf umgelegt: Betroffene nehmen in kurzer Zeit eine hohe Kalorienanzahl zu sich, sie spüren ein unglaubliches Verlangen nach allen „verbotenen“ Lebensmitteln. Aus Angst vor der Gewichtszunahme erbrechen sie das Gegessene dann wieder. Ein schrecklicher Teufelskreis, auch, weil es so ein Gewaltakt gegenüber dem eigenen Körper ist. Und ich habe Patient:innen, die das seit 30, 40 Jahren jeden Tag machen.
Dabei hat sich das Körperbild doch gewandelt, oder?
Schon, aber trotzdem sind wir aktuell weit weg von einem wirklich feministischen Körperbild. Viele Frauen haben lange Haare, vergrößern sich ihre Brüste, lassen ihre Lippen aufspritzen. Es geht viel ums Gesehenwerden und um Konkurrenzdenken. Wir haben uns noch nie so häufig selbst gesehen wie jetzt. Und das ist nicht bestärkend, sondern schürt meist nur die Körperunzufriedenheit.
Was sind übliche Trigger für ein gestörtes Essverhalten?
Viele Patient:innen sind einsam und wollen sich durchs Abnehmen Zuneigung „erkaufen“. Sie haben das Gefühl, nicht geliebt zu sein und anerkannt zu werden, sei es sowohl im Freundeskreis als auch in der Familie. Ganz viele meiner jungen Patient:innen sagen, sie hätten eigentlich nie Freund:innen gehabt.
Andere wachsen in einem hohen Leistungsniveau auf, haben Akademikereltern, die wochentags hart arbeiten und am Wochenende noch Sport machen, in Vereinen aktiv sind und immer hoch hinauswollen. Da gibt es keinen Tag, wo man einfach nichts tut und gemeinsam entspannt. Die Kinder müssen das mitmachen.
Wenn ich meine Patient:innen dann nach der Ursache für ihre Krankheit frage, sagen manche auch: „Ich habe gehofft, dass sich Mama dann mehr um mich sorgt.“ Eine offene Kommunikation würde helfen, aber die findet in solchen Familien selten statt.
Wenn die Sprache fehlt, reagiert der Körper. Was alle Patient:innen gemein haben: Sie sind extrem unsicher. Und sie tun alles, um gemocht zu werden – aber was sie selbst eigentlich wollen, wissen sie gar nicht. Diese tiefe innerliche Leere kann durch Essen – oder den Verzicht darauf – ganz gut kompensiert werden, zumindest für eine kurze Zeit.
Wie würde man eine Essstörung beim eigenen Kind bemerken?
Das ist schwierig, weil es in Familien kaum mehr gemeinsame Mahlzeiten gibt. Generell ist die Beobachtung des Essens wesentlich: Isst mein Kind deutlich weniger oder isst es deutlich mehr? Ein absolutes Warnsignal ist es, wenn Mädchen ihre Menstruation nicht mehr bekommen. Oder wenn mein Kind sehr oft sportelt, aber nicht anständig isst. Wenn es hier auffällige Veränderungen gibt, muss man genauer hinschauen.
Ab wann muss eine Essstörung behandelt werden?
Aus psychiatrischer Sicht ist Behandlungsbedürftigkeit dann gegeben, wenn die betroffene Person massiv unter der Symptomatik leidet oder der Alltag nicht mehr bewältigbar ist. Die Angst vor zu viel Gewicht spielt hier auch eine Rolle, im Sinne von: Ich möchte schon, dass es mir besser geht, aber zunehmen will ich nicht.
Gleichzeitig haben vor allem anorektische Patient:innen oft eine Körperbildstörung. Sie sind dünn, erleben sich selbst aber als zu dick. Manchmal können sich diese Menschen nicht selbst anfassen, weil das Gefühl des eigenen Körpers für sie etwas Schlimmes ist. Vor allem schwere Traumatisierungen wie sexueller Missbrauch können zu solchen Körperbild- oder Körperumgangsstörungen führen. Generell muss man sagen: Je länger eine Ess- beziehungsweise Körperbildstörung unbehandelt bleibt, desto schwieriger wird die Behandlung.
Je länger eine Ess- beziehungsweise Körperbildstörung unbehandelt bleibt, desto schwieriger wird die Behandlung.
Barbara Mangweth-Matzek, Psychologin und Psychotherapeutin
Kann ein:e Sportler:in, der:die die eigene Kalorien- und Nährwertzufuhr streng überwacht, schon als essgestört bezeichnet werden?
Das ist ein ganz wichtiges Thema. Nicht ohne Grund gibt es inzwischen den Bereich der Sportpsychiatrie. Krankheit beginnt ja immer da, wo ein Verhalten nicht mehr gesund ist – und Hochleistungssport ist schon lange nicht mehr gesund. Ein anorektischer Tänzer hat mir gegenüber einmal seinen Trainer zitiert: „Jedes Kilo weniger hilft dir, einen halben Meter höher zu springen.“
Wir wollen immer höher, schneller, weiter werden, immer mehr Rekorde brechen. Das merkt man auch bei Olympia. Nur schaut man da halt nicht so genau hin, weil auch viel Geld dahintersteckt. Gerade bei Männern mit Essstörungen läuft sehr viel über exzessiven Sport, Ernährung und Kalorienzählen – der Krankheitswert, den diese Dynamik hat, ist hier oft der gleiche wie bei anderen essgestörten Patient:innen.
Welche Behandlungsansätze gibt es?
Bei uns auf der Klinik – wir betreuen allerdings schwerste Fälle – werden Patient:innen zunächst drei Monate lang stationär aufgenommen. Eine unserer Therapiesäulen ist intensive Psychotherapie, einzeln und in der Gruppe, wo erforscht wird, warum die Krankheit aufgetreten ist, wo ursächliche Probleme oder Überforderungen liegen.
Zum Programm gehören auch ergo- und physiotherapeutische Einheiten sowie strukturierte, ausgewogene Mahlzeiten am Tag. Die Therapie ist hart, vor allem für unsere anorektischen Patient:innen. Sie müssen essen, obwohl sie nicht wollen, und machen quasi einen Hungerentzug. Das kann man durchaus mit einem Alkohol- oder Drogenentzug vergleichen.
Aber ich sage auch immer: Es ist zumutbar, weil Anorexie so eine schlimme Erkrankung ist, und wer das aushält, schafft auch Therapie. Und dann kann es auch gelingen, wieder ein bisschen weicher zu werden, in jeder Hinsicht. In der Therapie merken die Patient:innen schnell, dass ihnen plötzlich wieder warm wird, sie mehr Kraft haben und wieder sitzen können, weil der Körper zunimmt. Und irgendwann können sie auch wieder herzhaft lachen. Es ist wie bei einer Blume: Mit jedem halben Kilo, das sie zunehmen, blühen sie auf.
Wie geht es dann weiter?
Natürlich verschwindet die Essstörung nicht von heute auf morgen. Meine Theorie ist: Es gibt das gesunde Hirn und das Anorexie- oder das Bulimie-Hirn. Das eine, gesunde Hirn sagt: „Toll, dass dein Körper heilt.“ Das andere sagt: „Wahnsinnig, wie dick du wirst.“ Die beiden Hirne zu trennen, ist sehr anstrengend.
Daher kann es sein, dass Betroffene nach ein paar Wochen wieder in alte Muster zurückfallen. Der stationäre Aufenthalt hat ja mit dem Alltag nichts zu tun, da gibt es keine Schule, böse Freund:innen oder lästige Eltern. Eine fortlaufende ambulante Psychotherapie ist daher sehr sinnvoll und wichtig.
Wenn man bei einer nahestehenden Person eine Essstörung vermutet: Sollte man es ansprechen oder lieber nicht?
Absolut, aber nicht mit „Mir fällt auf, dass du fast nichts isst“, sondern im Sinne von „Ich mache mir Sorgen um dich, geht es dir nicht gut?“ Im Zweifel ist es immer besser, sich professionelle Hilfe zu holen, vor allem, wenn der problematische Zustand bereits mehr als drei Monate andauert. Es gibt einige kostenlose psychologische Beratungsstellen in Tirol, an die man sich wenden kann.
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Mehr über die Autorin dieses Beitrags:
Andrea Lichtfuss ist Stv. Chefredakteurin der TIROLERIN und für die Ressorts Beauty, Style und Gesundheit zuständig. Sie mag Parfums, Dackel und Fantasyromane. In ihrer Freizeit findet man sie vor der X-Box, beim Pub-Quiz oder im Drogeriemarkt.
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