So können wir unseren eigenen Mut stärken
Hemma Rüggen: Mutbotschafterin
© Andreas Matthes
Mut ist mehr als nur die Abwesenheit von Angst; er ist die Kraft, trotz Furcht, Zweifel und Unsicherheit voranzuschreiten. Mut ist die innere Stimme, die uns auffordert, unsere Komfortzone zu verlassen und uns den Herausforderungen des Lebens zu stellen.
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Hemma Rüggen ist seit über 20 Jahren selbstständig als Trainerin und Organisationsberaterin tätig. Neben ihrer beraterischen Arbeit ist sie im Leitungsteam der „Pioneers of Change“, einer deutschsprachigen Initiative, die Menschen ermutigt, zu einem tiefgreifenden inneren und äußeren Wandel in sich selbst und in der Gesellschaft beizutragen. Sie moderiert den jährlichen Online-Summit mit rund 30.000 Teilnehmenden und leitet einen Online-Leadership-Kurs für Frauen. Wir sprechen mit der Mutbotschafterin unter anderem darüber, wann es sich lohnt mutig zu sein und wie wir unseren eigenen Mut stärken können.
Frau Rüggen, durch die vielen Ereignisse der letzten Jahre, wie die Pandemie, Kriege und Inflation, aber auch durch persönliche Schicksalsschläge, gibt es viele, die daran zerbrechen oder den Mut verlieren. Andere wiederum wachsen an Herausforderungen und Problemen. Ist Mut etwas, was einige Menschen per se haben und andere nicht?
Hemma Rüggen: Das glaube ich nicht. Wir haben in den letzten Jahrhunderten eine hochindividualisierte Gesellschaft entwickelt, mit Mythen von – meistens männlichen – mutigen Helden, die mit großem Getöse die Welt „retten“. Wir lernen aber Mut in Gemeinschaft, zum Beispiel an der Hand unserer Eltern, die uns etwas zutrauen und uns gleichzeitig in unserer Ängstlichkeit ernst nehmen. So entwickeln wir uns. Oder wir haben Freund:innen, die uns „herausfördern“, sodass wir nicht in unserem scheinbar sicheren, aber nicht lebendigen Alltag verharren. Wir brauchen andere Menschen, um Krisen zu bewältigen und über uns selbst hinauszuwachsen.
Wann lohnt sich Mut und wo ist die Grenze zu Übermut?
Mutter Teresa hat gemeint: „Mut ist die Angst, die ihr Gebet gesprochen hat.“ Mut ist also nicht das Gegenteil von Angst, sondern die Fähigkeit, mit all unserer Angst weiterzugehen. Übermut wäre es dann, wenn wir unsere Furcht ignorieren und über unsere Grenzen hinausgehen. Courage ist dafür das noch bessere Wort. Das heißt beherzt und tapfer sein – mit all unserer Furcht. „Eben weil wir uns fürchten, weil wir trotz der Furcht handeln, sie nicht einmal überwinden, sondern sie zur Verbündeten machen, handeln wir couragiert“ (zitiert nach Judith Kohlenberger). Jede große Veränderung erfordert unseren Mut, weil sie uns vor Herausforderungen stellt, die wir noch nicht kennen.
In einem Interview sprachen Sie einmal über die „Pandemie der Einsamkeit“, die wir in der heutigen Zeit erleben. Was genau meinen Sie damit?
„Die nächste Pandemie wird eine Pandemie der Einsamkeit sein“, das sagt die Pionierin der Mitgefühlsforschung Tania Singer. Mittlerweile sagen nicht nur ältere Menschen, dass sie einsam sind, sondern auch die 19- bis 25-Jährigen. Eine Ursache sind die „sozialen“ Medien, die süchtig nach Likes und Klicks machen, aber keine echte Verbundenheit erleben lassen. Wir brauchen daher wieder Räume für wirkliche Begegnung. Und wir brauchen eine tiefgreifende Veränderung unseres Selbstbildes: Wir sind zwar einzelne Menschen, aber wir sind mit jedem Atemzug verbunden: mit den Bäumen, die uns Sauerstoff schenken, mit dem Boden, der uns Nahrung schenkt, mit unseren Mitmenschen, ohne die wir nicht überleben könnten. Wenn wir uns wieder mit unserem inneren Wesen, mit anderen Menschen und der Natur verbinden, sind wir nicht mehr einsam. Das ist die größte Transformation, die vor uns liegt.
Sie sind im Leitungsteam von „Pioneers of Change“ – warum wurde die Initiative ins Leben gerufen und was kann man sich darunter vorstellen?
Pioneers of Change ist aus einer Idee von Martin Kirchner entstanden: ein Programm, das Menschen hilft, ihre Vision und ihren Beitrag für einen tiefgreifenden Wandel in der Welt zu entwickeln, verbunden mit einer Community, die bei der Umsetzung unterstützt. Aber viele können sich gar nicht vorstellen, wie eine ganz andere Welt aussehen könnte. Bei Pioneers of Change stärken wir den „Imaginationsmuskel“, indem wir visionäre Denker:innen einladen, alternative Wege aufzuzeigen. Denn keimhaft zeigt sich das Neue schon: Überall entstehen Projekte und Initiativen, die die Welt kooperativer und nachhaltiger gestalten. Mit unserer Arbeit machen wir diese pionierhaften Beispiele sichtbar und ermutigen Menschen, selbst aktiv zu werden und gemeinsam „Halbinseln des Neuen“ (zitiert nach Friederike Habermann) zu schaffen, wo sich die gute Zukunft in der Gegenwart verdichten kann.
In vielen Unternehmen gibt es nach wie vor mehr Männer in Führungspositionen als Frauen, obwohl sie im Bewerbungsprozess die gleiche Qualifikation mitbringen. Sind Männer mutiger als Frauen?
Das ist ein vielschichtiges Problem. Tatsächlich „verkaufen“ sich Frauen manchmal schlechter in solchen Bewerbungssituationen, trauen sich weniger zu als ihre männlichen Mitbewerber. Aber ich glaube, es hat auch damit zu tun, dass viele Frauen diese Art von patriarchalem Machtgehabe in Führungspositionen ablehnen. Denn wir brauchen ein ganz neues Verständnis von Führung. Führung sollte dafür sorgen, dass die Weisheit der vielen im Team dem größeren Ganzen dient. Das ist Führung, die dem Leben dient. Und dafür sind Frauen – und auch Männer – zu gewinnen.
Inwiefern spielen bei Mut Empathie und Authentizität eine Rolle?
Wer sich authentisch zeigt, braucht jedenfalls Mut. Vor allem den Mut, sich verletzlich zu zeigen. Zum Beispiel zu sagen: Das weiß ich nicht, ich bin unsicher. Aber meine Erfahrung ist: Wenn wir diesen Mut aufbringen, geben wir auch anderen Menschen die Erlaubnis, sich authentisch zu zeigen. Dann wird menschliche Begegnung jenseits von cooler Fassade erst möglich, wir spüren: Wir teilen unsere tiefste Menschlichkeit. So können wir Mitgefühl für die Freuden und Schwierigkeiten des anderen entwickeln und sehen: Wir sind alle nicht perfekt und dennoch vollkommen. Wenn wir einander in dieser Essenz des Mensch-Seins begegnen, ist das zutiefst bereichernd. Dieser Mut lohnt sich jedenfalls.
Wann waren Sie persönlich das letzte Mal mutig?
Die Antwort meines Mannes: Du bist jeden Tag mutig, wenn du aufwachst und bereit bist, dich mit offenem Herzen dem Abenteuer Leben zu stellen und dich auf Liebe wirklich einzulassen. Und du bist mutig, wenn du dich hinsetzt und meditierst. Weil du bereit bist, allem zu begegnen, was sich dir in der Stille zeigt. Und du bist mutig, wenn du dich im wöchentlichen Pioneers-Newsletter für 60.000 Menschen mit deinen ganz persönlichen Fragen und deiner Verletzlichkeit zeigst.
Welche Tipps können Sie geben, um den eigenen Mut zu stärken? Gibt es vielleicht sogar eine „Mut-Philosophie“?
Mut ist der Weg in die Freiheit: Du entscheidest bewusst, dich in ausreichend herausfordernde, aber nicht überfordernde Situationen zu begeben. Ja, das kann Unbehagen auslösen! Und ja, das gehört dazu. Die Herausforderung sollte so sein, dass sie dich wach macht und du gleichzeitig noch präsent und offen bleibst. So erweiterst du deine inneren Grenzen. „Akzeptiere deine Grenzen und arbeite gleichzeitig daran, sie zu erweitern.“ (zitiert nach Miki Kashtan) Bei den Pioneers nennen wir das „LustAngst“. Und finde Menschen, die dich wohlwollend begleiten, wo ihr euch authentisch und ehrlich austauschen könnt und gegenseitig auf dem Weg in die Lebendigkeit unterstützt.
MEHR ÜBER DIE AUTORIN DIESES BEITRAGS
Elisabeth Trauner ist Redakteurin von Unser SALZBURG und mit Stift, Block und Herz immer zur Stelle, wenn Menschen spannende Geschichten zu erzählen haben. Sie hört Podcasts, braucht Krimis und True Crime-Dokus zum Einschlafen und probiert gerne neue Kochrezepte aus, die aber meistens komplett schief gehen.
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