
Wie TikTok die Musikindustrie verändert – und was das für Künstler:innen bedeutet
Tiroler Produzent Simon Corazza im Gespräch
© Cottonbro Studio
Die Plattform TikTok hat sich in den letzten Jahren zu einer der einflussreichsten Plattformen der Musikindustrie entwickelt. Was 2018 mit Lip-Sync-Videos als „Musical.ly“ begann, nimmt heutzutage entscheidenden Einfluss darauf, welche Songs weltweit gehört werden – und welche nicht.
Musik ist dort nicht nur Beiwerk, sondern Kern der meisten Inhalte: Fast jedes Video lebt von einem Sound. Die Folge: Songs gehen viral, landen in den Charts – und ganze Musikkarrieren entstehen durch 15-Sekunden-Clips. Damit verändert TikTok nicht nur, wie Musik vermarktet wird, sondern auch, wie sie entsteht. Was früher ein langwieriger kreativer Prozess war, wird heute meist von Algorithmen, Reaktionen in Echtzeit und der Hoffnung auf virale Reichweite geprägt.
Der Tiroler Produzent Simon Corazza kennt diese Entwicklung aus nächster Nähe. Er ist seit knapp fünf Jahren selbstständig und begleitet Künstler:innen beim Produzieren von Musik.

Vom Kinderzimmer auf die Weltbühne
Dass heute jede:r theoretisch von zu Hause aus Musik veröffentlichen kann, ist eine der wohl sichtbarsten Veränderungen der letzten Jahre. Für Simon, der sich am Anfang seiner Selbstständigkeit sein eigenes Tonstudio in Aldrans gebaut hat, ist das einerseits eine großartige Chance: „Früher musste man Unsummen investieren, um überhaupt einen Song aufnehmen zu können. Heute reicht oft ein Smartphone, ein günstiges Interface und ein bisschen Know-how.“ Musik sei so demokratischer geworden. Künstler:innen benötigen keine teuren Produzent:innen mehr oder den Segen eines Labels, um gehört zu werden – ein virales TikTok-Video kann reichen.
Mehr Hype als Herz
Doch diese neue Zugänglichkeit hat auch ihre Schattenseiten – und die zeigen sich besonders deutlich auf Plattformen wie TikTok. Was dort zählt, ist weniger musikalische Tiefe als vielmehr das Potenzial zur viralen Verbreitung. Musik, die früher von Emotion, Tiefe und Ausdruck lebte, muss heute vor allem performen.
Die zwischenmenschliche Komponente, das Persönliche, das Sich-Zeit-Nehmen, gerät dabei zunehmend in den Hintergrund. Vieles ist auf Effekte getrimmt, auf Reichweite, auf Masse. „Manchmal habe ich das Gefühl, es geht mehr um den Hype als um die Musik selbst“, sagt Simon. Das verändert nicht nur, wie produziert wird – sondern auch, was überhaupt als künstlerisch wertvoll gilt.
Schnell, kürzer, auffälliger
Der Einfluss von TikTok verändert nicht nur das Marketing, sondern auch die technische Struktur der Songs. Viele Künstler:innen posten heute zunächst kurze Snippets, die online auf ihre Wirkung getestet werden. „Es ist wie ein digitales Testing für Musik“, erklärt Simon. Reagiert die Community positiv, wird der Song ausgearbeitet, andernfalls bleibt es beim Rohentwurf. So entstehen viele Tracks heute unter dem Druck, in wenigen Sekunden zu überzeugen: keine langen Intros, klare Hooks, sofortiger Einstieg. Klassische Songbögen haben im Zeitalter des Scrollens oft keinen Platz mehr.
Musik trifft Algorithmus
Auch künstlerische Entscheidungen werden zunehmend datengetrieben. Likes, Shares, Views – all das beeinflusst, ob und wie ein Song weiterverfolgt wird. „Man muss heute auf Zack sein. Wenn man sich zwei Monate Zeit lässt für einen Song, ist der Hype oft schon wieder vorbei“, so der Experte. Auch immer mehr Plattenlabels richten ihre Entscheidungen verstärkt an der Online-Reichweite potenzieller Künstler:innen aus, berichtet er. Es zählt, was performt – und nicht zwangsläufig, was musikalisch innovativ ist. „Manchmal reicht es, viele Follower:innen zu haben, auch wenn der Song selbst vielleicht gar nicht so stark ist.“
Zwischen Kunst und Content
Neben musikalischem Talent braucht es heute auch Präsenz – auf Social Media, im Feed, im Livestream. Wer sichtbar sein will, muss mehr als Musik liefern. „Man ist nicht nur Musiker:in, sondern auch Content Creator:in“, bringt es Simon auf den Punkt. Doch genau das fällt vielen schwer. „Es gibt ja auch viele schrullige Musiker:innen, da zähle ich mich auch dazu“, sagt er lachend.
„Ich zeige zwar gerne meine Musik, ich muss aber niemandem zeigen, was ich zum Frühstück esse.“ Gerade introvertierte oder medienkritische Künstler:innen geraten so in einen Konflikt: Wie viel von sich preisgeben – und was lieber nicht? Auch Simon selbst beginnt gerade erst, diesen Spagat zu navigieren. „Ich fange an, mehr von mir zu zeigen – einfach, weil es ohne nicht mehr geht.“ Die Nähe zur Community sei schön, meint er. Doch sie bringt auch Erwartungen mit sich, die nicht jede:r erfüllen will – oder kann.
Streaming statt Studioalbum
Parallel hat auch Streaming-Plattform Spotify die Hörgewohnheiten stark verändert. Musik wird passiv konsumiert, in Playlists integriert, oft ohne Kontext oder Zusammenhang. „Ich weiß noch, wie ich mich als Kind in mein Zimmer gesetzt habe und mir das ganze Falco-Album angehört habe – vom ersten bis zum letzten Song. Heute läuft Musik oft einfach nebenher“, erinnert sich Simon. Für Künstler:innen bedeutet das auch finanziellen Druck: Denn trotz riesiger Reichweiten ist der Verdienst durch Streaming oft marginal. „Man braucht Millionen von Streams, um überhaupt die Produktionskosten wieder einzuspielen. Das war früher natürlich was ganz anderes, wenn man es geschafft hat, tausend CDs zu verkaufen.“

Wunsch nach Entschleunigung
Für die Zukunft wünscht sich Simon eine Rückbesinnung auf das Wesentliche: Musik als Ausdruck, nicht als Algorithmusfutter. „Es wäre schön, wenn wieder mehr Wert auf Inhalt gelegt wird. Dass Musik wieder menschlicher wird“, sagt er. Der digitale Wandel wird bleiben – davon ist er überzeugt: „Ich glaube nicht, dass das noch einmal weggeht.
Vielleicht gibt es irgendwann eine neue Plattform und es ist nicht mehr TikTok, aber im Großen und Ganzen wird es weiter wichtig bleiben, sich auch medial zu inszenieren.“ Doch seine Hoffnung bleibt, dass zwischen Trends, Challenges und Klicks auch wieder Platz für das ist, was Musik schon immer war: Gefühl, Geschichte und Gemeinschaft.
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Mehr zur Autorin:

Tjara-Marie Boine ist Redakteurin für die Ressorts Business, Leben und Kultur. Ihr Herz schlägt für Katzen, Kaffee und Kuchen. Sie ist ein echter Bücherwurm und die erste Ansprechpartnerin im Team, wenn es um Themen wie Feminismus und Gleichberechtigung geht.
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