Ingrid Brodnig

Ingrid Brodnig über das Geschäft mit der Wut

Rage Bait

8 Min.

© Unsplash/Andrea Cassani

Beschimpfungen, Beleidigungen, Unwahrheiten und Co in öffentlichen Debatten – wie konnte es so weit kommen? Wenn du dich auch nach mehr positiven Vibes sehnst, bist du hier richtig. Ingrid Brodnig entlarvt vergiftete Strategien und liefert Tipps für ein besseres Miteinander.

Ich entschuldige mich bei der Mutter des Kindes. Menschen denken, weil ich ein Afghane bin, dass ich böse bin“, sagte das Mädchen. Die Zwölfjährige trat auf einer Gedenkfeier für die Opfer in Aschaffenburg spontan auf die Bühne. Ein zweijähriger Bub und ein Mann waren Ende Jänner getötet worden, die Messerattacke heizte die Stimmung vor der Wahl in Deutschland zusätzlich an.

„Ich wollte nur sagen, dass die ganzen Afghanen nicht böse sind, nur manche“, fügte das Mädchen unter Tränen hinzu. Die Aufzeichnung des Bayerischen Rundfunks ging viral.

Du erinnerst dich vielleicht auch an die Worte von Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der im Mai 2019, nachdem das sogenannte Ibiza-Video öffentlich geworden war, erklärte: „Ich möchte das in aller Deutlichkeit sagen: So sind wir nicht! So ist Österreich einfach nicht!“

Menschen bilden dauernd Gruppen, aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Berufe, diverser Eigenschaften oder Interessen, trotzdem unterscheiden sich stets die einzelnen „Mitglieder“. Das vergessen wir leider oft. „Wir alle neigen dazu zu übersimplifizieren“, sagt Ingrid Brodnig. Aber: Keine Gruppe ist homogen. Weder Menschen auf der Flucht noch Österreicher:innen. Auch nicht jene Menschen, die eine Partei wählen.

Um das zu veranschaulichen, wählt die preisgekrönte Journalistin und Autorin in ihrem aktuellen Buch „Wider die Verrohung“ ein womöglich unerwartetes Beispiel, das sie im WIENERIN-Interview so zusammenfasst: „Leute mit Parteipräferenz FPÖ sagen wesentlich seltener, der Klimawandel mache ihnen Sorgen – nämlich 29 Prozent. Bei allen anderen Parteien sind es 60, 70, 80 und noch mehr Prozent, da ist ein riesiger Unterschied.

Das Spannende ist aber: 29 Prozent sind für Klimathemen potenziell ansprechbar. Wenn ich ausblende, dass es sehr wohl Nuancen geben kann, nehme ich mir die Chance, Menschen argumentativ zu erreichen. Gerade in Zeiten, wo viele Themen heftig umstritten sind, ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, wo wir Gemeinsamkeiten haben.“

Ingrid Brodnig
Ingrid Brodnig © Gianmaria Gava

Ihr Buch trägt den Untertitel „Über die gezielte Zerstörung öffentlicher Debatten“ – wie erleben Sie die Gegenwart?

Ingrid Brodnig: Donald Trump drückt als Präsident noch mehr auf die Tube, er beleidigt Leute, die die Welt anders sehen, die ihm widersprechen; er erklärt sie für dumm, korrupt oder unfähig. Wer beleidigt, hat leider oft den Vorteil, dass er dafür Aufmerksamkeit bekommt. Je mehr Macht so jemand hat, desto mehr Eindruck kann er mit seiner Rhetorik schinden. Eine heftige Wortwahl haben wir auch in der politischen Debatte in Österreich. Ich denke zum Beispiel an den FP-Politiker Dominik Nepp, der den Standard als „Scheißblatt“ bezeichnet hat. Das wäre schon an sich kein normaler Umgangston, er hat das aber auch noch in Relation zur Presseförderung gestellt. Dass es ruhiger wird, weil die Wahl vorbei ist, kann ich nicht erkennen.

Wie definieren Sie den Begriff Verrohung?

Die Verrohung ist ein Spektrum. Das extremste Beispiel sind Gewalttaten: Wenn ein SPD-Politiker schwer zusammengeschlagen wird, weil er Wahlplakate aufhängen wollte, gehört das zur Spitze des Eisbergs. Es beginnt aber schon damit, dass derber formuliert wird, als es notwendig wäre, oder dass Debatten aufgeheizt werden, die gar nicht so spektakulär sind. Ich bringe im Buch als Beispiel eine Schlagzeile aus der Bild-Zeitung: „Nur noch eine Wurst pro Monat für jeden!“ – Im Artikel stellt sich dann heraus, dass es nur um eine Ernährungsempfehlung geht, alle Deutschen dürfen so viel Wurst essen, wie sie wollen. Mit dem Zuspitzen einer Headline wird Emotion geweckt, so können sich Fronten verhärten.

Wie konnte es so weit kommen?

Eine der wichtigsten Währungen unserer Zeit ist die Aufmerksamkeit: Wo schaue ich hin? Parteien profitieren, wenn sie in der Fülle an Infos, Unterhaltung und Ablenkung sehr griffige, vielleicht auch angriffigere Statements absetzen, dann sind sie sichtbarer als andere. Auch Medien haben einen Vorteil, wenn sie die heftigere Headline haben. Ein Teil der Erklärung ist also: Artikel, die Wut auslösen, haben bessere Chancen viral zu gehen.

Sie schreiben gleichsam: Wut ist nicht generell zu verteufeln, sie trieb schon wichtige demokratische Veränderungen voran, wie etwa das Wahlrecht für Frauen. Wie viel Wut ist gut?

Wir müssen lernen, achtsam wütend zu sein, damit wir uns nicht in eine blinde Wut hineinreiten lassen. Der Begriff „achtsam wütend sein“ stammt von den Kommunikationswissenschaftlerinnen Whitney Phillips und Diane Grimes. Ein lächerliches Beispiel auf Social Media: absichtlich schlecht gemachte Kochvideos. Da wird mit kleinen Details Wut gesät, weil Influencer:innen wissen, dass wütende Kommentare mehr Reichweite bringen. Ich kann mir aber als User:in überlegen: Will ich solch einem Video meine Aufmerksamkeit schenken?

Politische Debatten haben ähnliche Mechanismen, aber es geht oft um wichtigere Themen. Wenn uns etwas wütend macht, sollten wir uns also zuerst fragen: Stimmt die Geschichte? Und als Zweites: Ist mir das Thema wichtig? Die Wissenschaftlerinnen empfehlen auch eine Art Bodyscan, also auf den eigenen Körper zu achten: Ist man verkrampft, kann es sein, dass man wütender ist, als einem bewusst ist. Um nicht übers Ziel hinauszuschießen, hilft es auch, sich vor Augen zu führen, dass die Person, über die man sich aufregt, auch ein Mensch mit Familie und Bedürfnissen ist. Man muss sein Tun nicht schönreden, es geht nur darum, blinde Wut zu verhindern.

Sie schreiben: Wut ist nicht das einzige Mittel, um Aufmerksamkeit zu bekommen …

Wut ist ein besonders einfacher Trick, sie ist leicht auslösbar, aber es gibt mehrere Emotionen, die Hand in Hand mit vielen „Shares“ auf Social Media gehen. Eine heißt Kama Muta. Das ist das Gefühl des Gerührt- oder Berührtseins, das löst beispielsweise ein liebes Tiervideo aus, wenn ein Äffchen ein anderes umarmt. Es kann aber auch politisch genährt werden. Die Psychologen David Grüning und Thomas Schubert testeten Werbespots mit US-Wahlberechtigten: Sowohl Wut als auch Kama Muta bringt die Leute dazu, für eine Partei oder ein:e Kandidat:in zu stimmen. Es können also auch positive Emotionen aktivieren, dafür braucht es aber ein bisschen mehr Zeit. Um Gerührtheit auszulösen, brauche ich eine Story, zum Beispiel: Es gibt ein gesellschaftliches Hindernis, aber wenn wir zusammenhalten, können wir es lösen.

Ingrid Brodnig
© Pexels/ Christina Watkins Photos

Also aufwendiger, aber lohnenswert?

Viele bemerken schon, dass es nicht angenehm ist, dauernd wütend oder mit negativen Zukunftsbildern konfrontiert zu sein. Ich denke, es gibt bereits eine große Sehnsucht nach positiven Emotionen.

In vielen Debatten mangelt es an Empathie. Kann man das erlernen?

Man kann manche jedenfalls an ihre eigene Empathie erinnern. Der Schweizer Staatswissenschaftler Dominik Hangartner und Kolleg:innen haben Antworten auf rassistische Postings getestet. Eine Strategie war es, den Menschen in etwa zu schreiben: Stell dir vor, wie verletzend diese Worte für jemanden aus dieser Gruppe sein können. – Das führte dazu, dass 8,4 Prozent der Personen ihr Posting löschten. Das ist eine Minderheit, aber eine messbare Zahl. Hätten wir acht Prozent weniger rassistische Postings, wäre das schon ein kleiner Erfolg.

Wann wird das „Gruppendenken“ gefährlich?

Ich komme ursprünglich aus Graz; wenn im Zug zufällig neben mir auch eine Grazerin sitzt, bilden wir die Eigengruppe der Grazerinnen, die anderen sind die Fremdgruppe. Das ist harmlos, weil wir den anderen in der Regel neutral oder gut gewogen gegenüberstehen. Man kann aber ein starkes Gefühl der Feindseligkeit erzeugen, indem man sagt, die Fremdgruppe, „die Anderen“ nehmen euch was weg oder wollen eure Rechte einschränken. Wir sehen sehr viel Rhetorik, die auf genau solchen Behauptungen basiert. Das ist eine sehr simple Möglichkeit, die Leute in ein schwarz-weiß Denken zu treiben. Man sollte immer vorsichtig sein, wenn nur in zwei Gruppen geteilt wird: wir und „die Anderen“.

Toll finde ich an Ihrem Buch auch, dass Sie Tipps einflechten und positive Perspektiven aufzeigen – was gibt Ihnen Hoffnung?

Dass wir manchmal ein schlechteres Bild haben, als die Welt wirklich ist. Wenn ich online Kommentare zu Artikeln oder Postings lese, demotiviert das manchmal auch mich, wie unversöhnlich einander die Leute gegenüberstehen. Dann erinnere ich mich daran: Das Internet ist ein Zerrspiegel. In Wirklichkeit ist es eine Minderheit, die den Großteil aller Postings und Kommentare verfasst. Das Pew Research Center hat in den USA eine Auswertung von Erwachsenen auf TikTok gemacht und dabei beobachtet, dass 98 Prozent der öffentlichen Videos von 25 Prozent der User:innen kommen. Was ich online sehe, ist also nicht das Volk, sondern die, die zum Beispiel besonders laut reden, besonders überzeugt sind oder ein besonders großes Anliegen haben.

Hoffnung gibt mir, wenn ich den Abgleich mit der Realität mache – und ich dort sehr viel Gesprächsbereitschaft erlebe und sehr viele Gemeinsamkeiten da sind.

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